"Briefe schreiben? Wozu denn? An wen denn? … Abschied nehmen? – Ja, zum Teufel hinein, das ist doch deutlich genug, wenn man sich totschießt! – Dann merken’s die andern schon, dass man Abschied genommen hat…"
aus: Lieutenant Gustl von Arthur Schnitzler, Seite 31, Zitatrechte: ©Reclam
Ein klein wenig zum Inhalt (Spoiler-Alarm!): Der junge Lieutenant Gustl besucht ein geistliches Konzert. Nach diesem kommt es zu einem Zusammenstoß mit dem Bäckermeister, von welchem sich Gustl auf den Schlips getreten und in seiner Ehre zutiefst beleidigt fühlt. Getrieben von seiner Wut, ob seines verletzten Stolzes, unternimmt er einen Spaziergang zum Wiener Prater, auf dem er beschließt, sich das Leben zu nehmen – um seiner Schmach zu entgehen. Als er nach seinem Ausflug in die Wiener „Unterwelt" frühmorgens noch ein letztes Frühstück genießen will, bevor er für immer Abschied nimmt, erfährt er im Cafè vom geschwätzigen Kellner, dass der Bäcker über Nacht verstorben ist – und mit ihm, der Grund für Gustl zu sterben. Juchee!, denkt sich dieser. „Ich glaub‘, so froh bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen … Tot ist er – tot ist er! Keiner weiß was, und nichts ist g’schehn!“ (Seite 44) Hurra. Und so vergisst Gustl seinen Plan, der für ihn noch Augenblicke zuvor die einzige logische Konsequenz auf die Verletzung seiner (Offiziers-)Ehre gewesen ist, und erklärt sein Vorhaben für unnötig. Das trifft sich gut, denn für denselben Tag hat ihn um vier Uhr nachmittags einer zum Duell – damals zwar bereits verboten, aber noch gang und gäbe – herausgefordert. Ein Vergnügen, das sich der junge Gustl nun nicht entgehen lassen muss... „… na wart‘, mein Lieber, wart‘, mein Lieber! Ich bin grad gut aufgelegt … Dich hau‘ ich zu Krenfleisch!“ (Seite 45)
Und so endet diese grandiose Erzählung Schnitzlers aus dem Jahr 1900.
"Ha! Mir scheint, das Sterben macht blöd‘!"
aus: Lieutenant Gustl von Arthur Schnitzler, Seite 38, Zitatrechte: ©Reclam
Mein Leseeindruck: Die Novelle über den sich selbst zu ernst nehmenden Lieutenant Gustl – den der Leser hingegen leider weder ernst nehmen kann noch möchte – gilt als einer der innovativsten Texte der Wiener Moderne. Ungefiltert werden die Gedanken des Protagonisten, der einen Hang zur Dramatik aufweist, wiedergegeben. Kurz vor Entstehung der Erzählung hatte Arthur Schnitzler Sigmund Freuds „Traumdeutung“ gelesen, deren Lektüre die Darstellung des Unterbewussten als stream of consciousness sicherlich maßgebend beeinflusste. Für mich war es unglaublich aufregend, die Gedanken Gustls unmittelbar miterleben zu dürfen, das Leseerlebnis ist unglaublich intensiv. Die ungefilterten Gedanken zeigen die Heuchelei, die Selbstverliebtheit, die Unreife und chauvinistische Stupidität des Protagonisten Gustl auf. Auf grandiose Weise entblößt Schnitzler die Idiotie eines Möchte-Gern-Helden, dessen dürftiger Ehrbegriff das Zentrum der Monolognovelle bildet. „Lieutenant Gustl“ ist ein großartiges Stück Weltliteratur, das bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat, ja, vermutlich nie so aktuell war wie heute.
Fazit: Jeder – wirklich jeder – sollte Gustl gelesen haben. Die Lektüre bereitet Vergnügen, öffnet die Augen, bietet kleine Einblicke in das Wien um 1900 und legt alle Facetten menschlicher Heuchelei offen.
Ich vergebe 5 von 5 Gerrys!
Lieutenant Gustl von Arthur Schnitzler | hrsg. von Konstanze Fliedl mit Anmerkungen von Evelyne Polt-Heinzl |
Reclam Verlag, 100 Seiten | ISBN: 9783150181560