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[Rezension] Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt

Mittwoch, 6. Juli 2016

Rezension Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt www.nanawhatelse.at
Foto: www.nanawhatelse.at, Bildrechte (Cover): Diogenes
Nichts ist grausamer als ein Genie, das über etwas Idiotisches stolpert.
Seite 139, Textrechte: Diogenes

Ein klein wenig zum Inhalt: Ein Autor hält in Chur eine Rede über Kriminalromane. Dort kommt es zur Begegnung mit dem ehemaligen Kommandanten der Kantonspolizei Zürich. Während einer gemeinsamen Autofahrt erzählt dieser dem Autor vom verrückt gewordenen Kommissar Matthäi, der beim Versuch, einen Kindermörder zu fassen, einen genialen Plan ausgeheckte, dabei jedoch selber in seine eigene Falle tappte…

Doch wird leider in all diesen Kriminalgeschichten ein noch ganz anderer Schwindel getrieben. Damit meine ich nicht den Umstand, daß eure Vebrecher ihre Strafe finden. Denn dieses schöne Märchen ist wohl moralisch notwendig.
Seite 11, Textrechte: Diogenes

Rezension: In „Das Versprechen“ rechnet Dürrenmatt mit allen konventionellen Formen des Kriminalromans ab. Der Roman entwickelte sich aus dem Drehbuch zu „Es geschah am hellichten Tag“ – ein Film, der 1958 in die deutschen Kinos kam und der den Erwartungen an einen klassischen Krimi noch vollauf gerecht wurde: denn eine böse Tat, ein Detektiv mit genialem Verstand und die Bestrafung des Verbrechers sind jene Elemente, die aus einem Krimi kaum wegzudenken sind. Dürrenmatt denkt die Geschichte jedoch weiter und stellt dem meisterhaften Detektiv nicht nur einen Kindermörder, sondern auch den Zufall gegenüber, der dem gewohnten Handlungsverlauf einen Strich durch die Rechnung macht. Auf brillante Weise wird die Absurdität des 0815-Krimis von den Figuren in der Rahmenhandlung diskutiert, während in der Binnenhandlung der Fall des Kommissars Matthäi geschildert wird, der als begnadeter Detektiv scheitert, weil im wahren Leben – anders als im realitätsfernen Krimi – die Gerechtigkeit nun einmal nicht immer siegt.

Dürrenmatt ist ein Meister des langsamen und doch mitreißenden Erzählens. Der regionale Touch des Romans, der nicht nur in der inhaltlichen, sondern auch in der sprachlichen Umsetzung mitschwingt, die hervorragend ausgearbeitete Protagonistenfigur des Dr. Matthäi und der außergewöhnliche Aufbau der Geschichte machen diesen Anti-Kriminalroman zu einem besonderen Lesevergnügen, das vor Augen führt, dass es nicht immer Splatter und purer Action bedarf, um das Leserherz schneller schlagen zu lassen.

Das Verhör hatte über zwanzig Stunden gedauert. Das war natürlich nicht erlaubt; aber wir von der Polizei können uns schließlich nicht immer nach den Vorschriften richten.
Seite 61, Textrechte: Diogenes

Persönliches Fazit: Dürrenmatts „Das Versprechen“ trägt zurecht den Untertitel Requiem auf den Kriminalroman und ist eine sehr kurzweilige, nachdenklich stimmende und raffiniert konstruierte Absage an die engen Grenzen, die dem Genre der Kriminalliteratur allzu oft gesetzt werden. 

Ich vergebe 5 von 5 Gerrys.

Das Versprechen – Requiem auf den Kriminalroman von Friedrich Dürrenmatt | Diogenes, 1996 | Taschenbuch, 160 Seiten | ISBN: 978-3-257-22812-0