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Die Sterne über Paris sind Splitter einer gen Himmel geschleuderten Glaskugel.aus: Friedhof der Unschuldigen von Andrew Miller, Seite 78. Textrechte: dtv
Der Klappentext: Die Französische Revolution begann in einem
Pariser Friedhof: die mitreißende Geschichte des jungen Bauernsohns und
Ingenieurs Jean Baptiste Baratte.
Rezension: Der junge Ingenieur Jean Baptiste erhält vom
französischen Königshaus einen Auftrag, den es unter größter Geheimhaltung und
Verschwiegenheit auszuführen gilt: Er soll den Friedhof Les Innocents, der die
Luft um Paris verseucht, dem Erdboden gleichmachen. Die Kirche soll weg und mit
ihr alle Gräber und Gebeine, die sich im Laufe von Jahrhunderten angesammelt
haben. Während Jean Baptiste seiner Aufgabe nachgeht, macht er Bekanntschaft
mit dem Orgelspieler Armand, der Teil einer Bewegung von Freigeistern ist, die
alte Eliten stürzen und eine neue, moderne Gesellschaft begründen möchte. Doch
nicht nur das revolutionäre Gedankengut
der Liberalen beschäftigt den jungen Baratte, auch die schöne Héloïse Godard, die
belesene, käufliche Dorfschönheit, geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und
während die einen bejubeln, dass die Vergangenheit niedergerissen und Les
Innocents zerstört werden soll, stellen sich nicht wenige gegen das Vorhaben
und Jean Baptiste. Revolution und Konservatismus treffen aufeinander, zwei
Welten kollidieren.
Als der Arzt gegangen ist, sieht Jean-Baptiste das Buch an und schlägt es einen Augenblick später auf. […] Er schließt die Augen, macht sie auf, sammelt sich, die Maschine seiner Konzentration, die ihm früher so gute Dienste geleistet hat. Er legt einen Finger oben links auf die linke Seite. Die ersten vier Worte bieten keine Schwierigkeit: „Wir wollen nun bedenken…“ Das nächste Wort kann er nicht lesen. Das nächste, glaubt er, ist ‚Beispiel‘. Das nächste ist nichts als eine Form, so bedeutungslos wie ein Tintenfleck. Ebenso das danach und das nächste danach. Und es sind nicht nur Wörter in Büchern, sondern auch die Wörter in seinem Kopf, die verschwunden sind. Namen von Dingen, ganz gewöhnlichen Dingen, Gegenständen, die ein Kind benennen könnte. Wie und .aus: Friedhof der Unschuldigen von Andrew Miller, Seiten 235-236. Textrechte: dtv
Der Autor schürt die Faszination des Lesers, gerade da sich
der Roman auch den düsteren Seiten von Paris widmet: dem Gestank und der
Gaunerei, der scheinheiligen Frömmigkeit und der trostlosen Armut. Historische
Fakten werden in sehr persönliche, turbulente Geschichten verwoben, das
Romanpersonal ist durch und durch ambivalent, die Absichten der meisten Figuren
sind undurchsichtig und wirken zweifelhaft, die Handlung ist durchdrungen von
einer spannenden Dynamik und einer wehmütigen Stimmung, die sprachlich auf
außergewöhnliche Weise umgesetzt wurden.
Wie einfach das alles ist! Und wie schwachsinnig von uns, dass wir uns das Leben zur Plage machen! Als wollten wir geradezu unglücklich sein oder befürchteten, dass die Erfüllung unserer Wünsche uns zerspringen ließe!
aus: Friedhof der Unschuldigen von Andrew Miller, Seite 271. Textrechte: dtv
Persönliches Fazit: Andrew Miller hat einen aufwühlend
ernsthaften, unglaublich facettenreichen und sprachgewaltigen Roman zwischen
literarischer Fiktion und historischer Realität geschaffen, der die gespannte
Atmosphäre am Vorabend der Französischen Revolution beinahe spürbar werden
lässt.
Friedhof der Unschuldigen von Andrew Miller | Originaltitel: Pure |
Übersetzung: Nikolaus Stingl | dtv, 2015 | Taschenbuch, 384 Seiten | ISBN: 978-3-423-14397-4